Schiedsrichtervereinigung

Kreis 17 - Iserlohn

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Kreis 17 - Iserlohn

Aus LEIDENSCHAFT zum Fußball.

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Oliver Ruhnert – der Lebenskünstler

Bei Union Berlin ist vieles anders: der Klub, der Tabellenplatz, der Manager. OLIVER RUHNERT (50) entflieht gerne dem Alltag – als Referee und Politiker.

 
Veröffentlichung mit freundlicher Unterstützung und Freigabe des Kicker Sportmagazins.

Die angenehmen Pflichten seines Amtes erledigt Michael Joithe mit erkennbarem Stolz. Iserlohns Verwaltungschef darf drei neue Ratsmitglieder – und eine stellvertretende Bürgermeisterin in ihr Amt einführen. Dafür hat er zu Beginn der Ratssitzung eigens die Amtskette angelegt, das erlaubt ihm § 7 der Hauptsatzung der Stadt Iserlohn „bei feierlichen Anlässen“. Im Sitzungssaal werden nach der Zeremonie kleine Geschenke und Blumen überreicht, höflich spenden die Abgeordneten von acht Parteien und Wählergemeinschaften Applaus, jetzt herrscht Kuschelklima im kommunalen Politikerklub. Nichts deutet zunächst auf dicke Luft im „Saalbau Letmathe“ hin.


Ganz links vom Bürgermeister-Podium sitzt Oliver Ruhnert. Als einer der wenigen Anwesenden trägt er eine FFP2-Maske. Ruhnert, der im Hauptberuf als Geschäftsführer des Fußball-Bundesligisten 1. FC Union Berlin eine gewisse Berühmtheit erlangt hat und von Berliner Medien überschwänglich als „magischer Manager“ gepriesen wird, führt in Iserlohn den Fraktionsvorsitz der Linken. Kommentare im weiteren Sitzungsverlauf formuliert er über ein Mikrofon, das griffbereit an seinem Platz liegt. Einmal tritt er ans Rednerpult, nestelt an seiner Lesebrille, die er eigens in einem Etui mit sich führt, und sagt mit einem süffisanten Lächeln: „Wir von den Linken sind ja hier die Bösen. Wir kriegen gern mal auf den Deckel.“

 

Jetzt spitzen alle die Ohren an dem Ort, wo die Sauerländer Kultband ZOFF (wie passend) im Dezember ein Konzert geben und zu ihrer legendären Hymne auf ihre Heimat anheben wird: „Wo die Misthaufen qualmen, da gibt’s keine Palmen.“

Ruhnert lebt in Iserlohn. Pendelt zwischen der 92000-Einwohner-Stadt und Berlin, meist mit dem ICE, der von Hamm/Westfalen bis in die Hauptstadt nur drei Stunden benötigt. Diese Heimatverbundenheit verrät viel über einen Menschen, der in Dortmund studierte und als Scout oder Nachwuchsboss auf Schalke erste Meriten im Profifußball sammelte. „Meine Basis war immer das Sauerland“, sagt er, „ich habe immer den Weg zurück nach Iserlohn gefunden“. Auch heute steht nirgendwo geschrieben, dass er Sondierungs- oder Vertragsgespräche mit Spielern oder Beratern im Kaffeehaus Einstein Unter den Linden oder in der Vereins-Geschäftsstelle an der Alten Försterei führen muss. Das kann er auch zuhause im weit über die Iserlohner Stadtgrenzen hinaus bekannten Café Spetsmann, wo Kuchen- und Pralinenauswahl famos und die Preise auf Ku’damm-Niveau sind.

 

Der 50-Jährige widerlegt eindrucksvoll die These, dass Männer kein Multi-Tasking können, und führt ein Leben zwischen den Welten: Ruhnert kann Manager, kann Politiker, er kann beides gleichzeitig, und als hätte er damit noch nicht genug um die Ohren, pfeift er Spiele in der Kreisliga oder winkt als Assistent in der Oberliga Westfalen. Im Moment legt Ruhnert eine Pause ein: Weil Union Berlin wegen aktueller Europa League-Verpflichtungen sonntags Bundesliga spielt, entfallen bis Mitte November die lieb gewonnenen Einsätze auf den Plätzen der Fußballprovinz.

Profifußball, Politik und Schiedsrichterei unter einen Hut zu bringen, erfordern ein perfektes Zeitmanagement und die Bereitschaft Arbeit zu delegieren. „Ich lebe in meinen Jobs von meinen Mitarbeitern“, gesteht Ruhnert, „die machen es überragend. Du bist darauf angewiesen, dass du Leute hast, die einfach gut sind.“ Auf eine gewisse Art ist Ruhnert ein Lebenskünstler, der seine Erfüllung in der Verknüpfung unterschiedlichster Interessen findet und dabei den Widerspruch zwischen politischer Weltanschauung und beruflicher Realität für sich persönlich mühelos auflöst. Ausdrücklich hat er sich von den Union-Bossen diese Nebenbeschäftigungen zusichern lassen – ohne deren Einwilligung hätte er in Berlin gar nicht erst angeheuert.

 

Ein Sonntag im September. Ruhnert leitet die Partie zwischen dem SV Oesbern und dem SSV Kalthof in der Kreisliga A/Iserlohn. Nur ein paar Zuschauer verlaufen sich am Rand einer mit beträchtlichem Eigenaufwand aufgehübschten Kunstrasen-Anlage. Oesberns Ehrenvorsitzender Paul Behme patrouilliert an der Außenlinie, ein angesehener älterer Herr, bekennender BVB-Anhänger und früher Rektor einer Grundschule in Menden, die mit dem Besuch Sebastian Kehls kurz vor dem Sommermärchen 2006 einen Höhepunkt in ihrer Geschichte erlebte.

 

Mögen sich Dortmunder und Schalker auch weiter in herzlicher Abneigung verbunden sein – seine Hochachtung vor dem Berliner „Transferkönig“ (FAZ) mit Schalker Stallgeruch hält Behme nicht hinterm Berg. Zu Taiwo Awoniyi, Max Kruse, Robin Knoche, Sheraldo Becker, Robert Andrich oder Rani Khedira wandern die Gedanken des ehemaligen Lehrers; Fußballer, mit denen Ruhnert sein außerordentlich großes Geschick auf dem Transfermarkt nachwies. Dafür stellte ihm der Berliner Kurier das Zeugnis auf, sich auf dem Parkett „besser als jeder Börsenmakler“ zu bewegen. Und Behme fragt: „Wie kommt der Olli nur an all diese Spieler ran?“

 

„Der Olli“ empfindet seine Auftritte als Schiedsrichter oder -Assistent als Flucht vor dem Alltag und als Ausgleich zum Bundesliga-Stress. Ruhnert kann mit Pfeife oder Fahne abschalten und runterkommen, weil ihm diese Nebenjobs totale Aufmerksamkeit abverlangen. „Du musst dich auf jede Situation konzentrieren“, betont er. „Du musst die Szenen beobachten und hast dabei nicht im Kopf, was vielleicht am Tag vorher in der Bundesliga gelaufen ist.“ Als Schiedsrichter denke er 90 Minuten nicht an Union – anders als beim Joggen, wo das Kopfkino auf Hochtouren mit der Aufarbeitung aktueller Ereignisse beschäftigt sei.

 

Auch Ruhnert muss einmal im Jahr eine Leistungsprüfung ablegen, um überhaupt in der Kreisliga-A Spiele leiten zu dürfen. Die Anforderungen: 1000 Meter in 5:30 Minuten, 100Meter in 16,6 Sekunden, 50 Meter in 9,5 Sekunden, dazu ein Regeltest mit 30 Fragen (fünf Fehler erlaubt). Wer besteht, erhält von Lars Lehmann, Vorsitzender des Kreis-Schiedsrichterausschusses Iserlohn, die Qualifikation für Spielleitungen in der Kreisliga A. Lehmann ist Herr über 120 Schiedsrichter und Ruhnert sein prominentester Mitarbeiter, ohne dass Prominenz und Bodenständigkeit einander ausschließen müssen. „Für Oliver macht es keinen Unterschied, ob er in der Kreisliga A pfeift, ob er in der Oberliga an der Linie steht – oder ob er als Geschäftsführer von Union Berlin Fernsehinterviews gibt. Er liebt den Fußball. Die Liga ist ihm egal“, versichert Lehmann.

 

Ruhnert gilt als absolute Autorität auf dem Platz. Hinter vorgehaltener Hand heißt es: Selbst wenn sich ein Ball, den er Aus gibt, noch einen Meter im Feld befinden sollte, rührt sich kein Protest.

Sein Wort ist Gesetz. Widerspruch zwecklos.

Lehmann setzt seinen mit allen Wassern gewaschenen Schiedsrichter bewusst auch bei brisanten Paarungen an. Bevor sich ein Spieler an Ruhnert herantraue, um wütend zu protestieren, müsse schon einiges passieren“, erläutert er. „Bei einem jungen Schiedsrichter versuchen die Spieler auszuloten, wie weit sie gehen dürfen. Das brauchen sie bei ihm nicht machen“, sagt Lehmann. Ruhnerts Bekanntheitsgrad und seine angesehene Stellung in der Bundesliga ersticken offenbar jede Lust auf Krawall und Konfrontation. „Die Spieler wissen: Der hat schon Ahnung von dem, was er macht“, verrät der Schiri-Boss. „Sie denken: Wenn Ruhnert pfeift, glauben wir ihm einfach mal.“

 

In Letmathe, wo eineinhalb Stunden später der Rat der Stadt Iserlohn tagen wird, sitzt Ruhnert in einem Café und spießt mit einer Gabel ein kleines Obststück auf seinem Kuchen auf. Ruhnert erklärt, dass es bei der Schiedsrichterei „auf eine gewisse Ansprache und auf Grenzen“ ankomme. „Wenn du Grenzen nicht festlegst, kriegst du Probleme.“ So lange er als Schiri alles im Griff habe, will er weitermachen. Sollte seine Autorität aber schwinden, würde er für sich selbst die Rote Karte ziehen: „Das möchte ich den Spielern nicht antun, dann wäre sofort Schluss.“ Die Partie zwischen Oesbern und Kalthof (1:5) bringt er mühelos und aufgeregt über die Zeit, nur einmal zieht er Gelb, als Kalthofs Torhüter einen Angreifer der Gastgeber in Holzfäller-Manier abräumt. Ruhnert pfeift „mit Auge“, wie Fußballer augenzwinkernd feststellen, wenn Schiedsrichter nicht mehr in jedem Winkel des Spielfeldes persönlich vorbeischauen, aber es sind die Augen eines Adlers, die ihn dabei leiten.

 

24 Euro Aufwandsentschädigung und 30 Cent für jeden gefahrenen Kilometer erhält ein Schiedsrichter in der Kreisliga, neulich hat Ruhnert aus Versehen einmal nur 23Euro abgerechnet, es war ihm nicht so wichtig. Seit 2007 pfeift er für den BSV Lendringsen, das verbindet ihn mit Florian Steuer, der viele Jahre als Assistent im Team von FIFA-Schiri Felix Zwayer (Berlin) stand und heute im Vorstand einer Bank Karriere macht. Ruhnert sei trotz seiner Erfolge auf einer viel höheren Ebene „nie abgehoben“, bescheinigt ihm Lendringsens Vorsitzender Torsten Strott, „lobenswert, dass er seine Bodenständigkeit nie verloren hat. Er weiß, wo seine Wurzeln sind.“

 

In der Politik liegen diese Wurzeln links, seit 2007 als Mitglied der Linken, seit 2009 im Rat der Stadt Iserlohn. Es sei schwierig, dieses Engagement in Stunden zu beziffern, sagt Ruhnert. Immerhin verschafft die Auflistung seiner wichtigsten Termine eine ungefähre Vorstellung davon, wie aufwendig Kommunalpolitik sein kann: Jeden Monat stehen vier Fraktionssitzungen à zwei Stunden in seinem Terminkalender, entweder eilt Ruhnert von Berlin nach Iserlohn oder er lässt sich zuschalten; einmal im Monat nimmt er an einer Fraktionsvorsitzenden-Besprechung teil; sieben Ratssitzungen im Jahr plus sieben Hauptausschuss-Sitzungen sind Pflicht, dazu jährlich zwei Zusammenkünfte des Beschwerdeausschusses. Monatlich 340 Euro zahlt die Stadt Iserlohn den Ratsmitgliedern für ihr Engagement, weitere 910 Euro den Fraktionsvorsitzenden.

 

„Was er dort (bei Union Berlin, Anm. der Red.) leistet, ist eine Aufgabe, die eigentlich gar nicht mit seinen lokalen Tätigkeiten in Einklang zu bringen ist“, meint Bürgermeister
Joithe von der Wählergemeinschaft DieIserlohner. „Deshalb finde ich es bewundernswert, dass er immer noch als Schiedsrichter und in der Kommunalpolitik aktiv ist. Dass vom Zeitmanagement hinzukriegen, ist eine ziemliche Herausforderung. Dass er sich das antut, zwischen Iserlohn und Berlin zu pendeln, auf lokaler Ebene so präsent zu sein und auch für den Amateursport so zu brennen, nötigt mir Respekt ab.“

 

Warum Joithe noch hinzufügt, dass Ruhnert durchaus ein streitbarer Geist sei, wird im Verlauf der Ratssitzung in Letmathe deutlich. Als es um den im Juni geschlossenen Städtefreundschaftsvertrag zwischen Iserlohn und Ternopil in der Ukraine geht, zieht Ruhnert den Kampfanzug an: Auch die wiederholten Hinweise anderer Ratsmitglieder auf die ausdrücklich unter humanitären Aspekten zu sehende Verbindung zu der 250000 Einwohner-Stadt können ihn nicht besänftigen: Ternopil sei, wie sich erst jetzt herausgestellt habe, eine Hochburg der rechtsextremen, nationalistischen Swoboda-Partei, „und mit der“, knurrt Ruhnert, „möchten wir nichts zu tun haben.“

 

Auf Schmusekurs mit der Verwaltungsspitze gehen Die Linken, die 2020 bei der Kommunalwahl respektable 7,5 Prozent der Stimmen einfuhren, auch nicht, als es im weiteren Verlauf der Sitzung in der Debatte um Anwohner-Parkgebühren zu einem Eklat um Bürgermeister Joithe kommt. Zwei Tage später spricht Ruhnert in einem auf Facebook verbreiteten Kommentar scharf im Ton und unmissverständlich in der Sache dem „Selbstdarsteller“ an der Verwaltungsspitze die Eignung für sein Amt ab: „Die Aufgabe ist zu groß für Sie.“ Eine indirekte Rücktrittsforderung an Joithe folgt.

 

Er sei nie der typische Linke gewesen und habe nie von Hartz 4 leben müssen, sagt Ruhnert, „ich weiß aber trotzdem, wie es ist, wenn man nicht so viel Geld hat. Ich bin damit groß geworden, mit Geld haushalten zu müssen. Ich bin aus Überzeugung zur Linken gestoßen.“ Fast jedes Gespräch, das Journalisten mit ihm führen, landet irgendwann an dem Punkt, ob er als Linker nicht Wasser predige, aber Wein trinke. Kann man exzessiven Kapitalismus ablehnen und gleichzeitig im Kommerz getriebenen Big Business Bundesliga lustvoll mit an den großen Rädern drehen? Muss sich hier einer etwa selbst verleugnen, wenn er bei Union Berlin Millionen bewegt und dafür ein dickes Gehalt bezieht?

 

Muss er nicht, beteuert Ruhnert, er sei viel früher bei den Linken als im Profifußball gewesen. „Außer dem: Warum soll ich mich verändern, wenn ich jetzt einen anderen Job habe und mehr Geld verdiene? Das ändert nichts an meiner Denkweise und an meiner Sozialisierung.“ Ruhnert fügt hinzu: „Wir sind privilegiert. Ich werde das nicht ändern können. Aber ich kann zumindest versuchen, bestmöglich meiner Verantwortung in gewisser Art und Weise gerecht zu werden. Das tue ich auch, in dem ich Kommunalpolitik mache.“

 

Den bisher vier Jahren als Spürnase für Union Berlin soll nur eine überschaubare Zahl von Jahren noch folgen. „Mich als Manager in der Bundesliga wird es keine zehn Jahre geben“, verrät Ruhnert. Er plant den mittelfristigen Ausstieg als Selbstschutz-Maßnahme. „Mit diesem Job gehst du schlafen, und du stehst damit auf. Wenn ich merke, dass der Akku aufgebraucht ist, dann muss ich etwas anderes machen.“

 

Was das sein könnte? Noch einmal als Scout auszuschwärmen oder ein Nachwuchsleistungszentrum zu leiten – das könnte Ruhnert gefallen. Einen beruflichen Abstieg würde das nach eigener Darstellung für ihn nicht markieren. „Im Gegenteil“, versichert er, „weil ich das gerne mache und genieße.“

Vielleicht käme er dann auch wieder früher nach Hause als an jenem Tag der Ratssitzung in Iserlohn mit anschließender Zugfahrt zurück in die deutsche Hauptstadt: Erst um 0.45 Uhr schließt Ruhnert die Tür seiner Berliner Wohnung auf.


THOMAS HENNECKE